Der christlichen Erziehung und Bildung maß Pater Leo Dehon höchste Priorität bei. Mittels christlich geprägter Multiplikatoren strebte er das „Heil der menschlichen Gesellschaft“ (Dehon) an. Die christliche Persönlichkeitsprägung war für ihn die Voraussetzung, um in fundamentaler Weise den Ursachen der Gottlosigkeit, der Sittenlosigkeit sowie der Ausbeutung und Verelendung der Menschen zu begegnen, damit sich das „Reich Gottes in den Seelen und in der Gesellschaft“ verwirkliche.

Der folgende Beitrag will einen kleinen Einblick in das Erziehungs- und Bildungsanliegen von Pater Dehon geben, in dessen Idee, Bedeutung und Praxis.

 

1. Idee

These: Dehon denkt strukturell und politisch. Angesichts der Probleme und Grenzen der Pfarreiarbeit sieht er in der Gründung einer Schule ein politisches Instrument, um junge Menschen christlich zu erziehen und um die Ursachen der Misere nachhaltig zu bekämpfen.

Die Gründung der Schule Saint-Jean gehört zu jenen Werken, die gesellschaftspolitisch ein „heißes Eisen“ gewesen sind. Trotz vielseitiger Anfeindungen zeigt Dehon einen unerschrockenen Mut. Hier investiert er leidenschaftlich seine Energie. Hier verfolgt er mit geschickter Hartnäckigkeit sein Anliegen.

Ursprünglich ist Abbé Dehon für die Pfarreiarbeit vorgesehen, doch dort bleibt er nicht lange. Der Auslöser für sein inneres Umschwenken ist die Erfahrung als Kaplan in Saint-Quentin. Diese Erfahrungen entsetzen ihn. Er ist nicht nur frustriert, mit sechs weiteren Kaplänen und dem Pfarrer 30.000 Seelen zu betreuen. Rein rechnerisch sind dies pro Geistlichen immer noch 3500 bis 4000 Katholiken. Aber sich um diese Anzahl Menschen wirklich pastoral kümmern zu können, sie seelsorglich zu begleiten, ihnen fundamentale Lebenshilfen aus dem Glauben zu geben, hält Dehon nach kurzer Zeit für unmöglich. Schon bald wendet er sich innerlich von der Pfarreiarbeit ab, nicht weil er die Seelsorge nicht mag, ganz im Gegenteil. Aber er macht die Erfahrung, dass er und seine Mitgeistlichen die Menschen mit dem vorhandenen pastoralen Konzept in der Pfarrseelsorge kaum noch erreichen.[1] In der Jugendseelsorge erfährt er die Unzulänglichkeit des Katechismusunterrichts.[2] Ohnehin investieren der Pfarrer und die Kapläne in Saint-Quentin die meiste Zeit in Beerdigungen, Beichten, Messfeiern und in das Spenden der Sakramente. Die Geistlichen bewegen sich mehr oder weniger immer nur in den selben Familien und Kreisen. Doch der größere Teil in der Gemeinde bekommt einen Priester als ernsthaften Gesprächspartner zeitlebens nie zu Gesicht. Das bedrückt Dehon.

Noch bedrückender ist es für ihn, die Verelendung der Gesellschaft zu erleben, vor allem das Elend der Jugend. Viele junge Menschen sind verwahrlost, werden von ungerechten gesellschaftlichen Strukturen ausgebeutet, aber noch mehr junge Menschen werden zunehmend gottlos. Und die Gottlosigkeit geht einher mit einem Verfall der Sitten. Dehon erfährt seine eigene Ohnmacht, die Ohnmacht der Pfarrei, die diesen größer werdenden Teil der jungen Generation nicht mehr erreicht.

So reift in ihm der Entschluss, aus der Sakristei herauszugehen, politisch zu werden, die Strukturen der Gesellschaft zu verändern. Als Mann der Tat will er gegen die Gottlosigkeit der Jugend, gegen den Verfall der Sitten, gegen die Ausbeutung und gegen die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse kämpfen; aber von nun an systematisch und strukturell – und nicht als Einzelkämpfer. Mit der Bekämpfung der Symptome dieser Misere gibt er sich nicht zufrieden. Er will sich den Ursachen zuwenden, den Fundamenten der französischen Gesellschaft. Und wer diese Fundamente neu legen will – das weiß Dehon genauso wie die Linksrepublikaner und die Antiklerikalen – muss über die höhere Ausbildung Einfluss auf die junge Generation nehmen.

Vor diesem Hintergrund eröffnet er 1877 ein Gymnasium und beginnt zeitgleich, noch im selben Sommer, sein Noviziat, in der Absicht, eine Gemeinschaft von Männern um sich zu scharen, die durch die Gelübde des Gehorsams, der Ehelosigkeit und der Armut in verbindlichen Strukturen leben, und dies generationsübergreifend, um sein Kernanliegen, das Heil der Gesellschaft, umzusetzen. Zeitgleich beginnt Dehon ein doppeltes Unternehmen: Er gründet eine Ordensgemeinschaft im Schatten einer Schule.

 

2. Bedeutung

These: Aus eigener Erfahrung kennt Dehon das staatliche Verbot kirchlicher Erziehung und Bildung. Hat die Kirche die Freiheit jedoch wiedererlangt, sollt sie alles tun, um diese Freiheit zu nutzen.

Zehn Jahre nach der Gründung des katholischen Kollegs Saint-Jean veröffentlicht Abbé Dehon 1887 im Verlag Retaux-Bray die Grundsatzrede über die christliche Erziehung anlässlich der Gründung von Saint-Jean im Sommer 1877 zusammen mit sechs weiteren Reden im Rahmen der Preisverleihungen am jeweiligen Schuljahresende sowie eine Rede über die Herz-Jesu-Verehrung. Der Titel des Buches lautet: „L’éducation et l’enseignement selon l’idéal chrétien. Discours de distributions de prix 1877-1886“. Ordensintern fand diese Schrift Aufnahme in den „Oeuvres Sociales“, IV Volume, wo sie knapp 130 Seiten umfasst. Es ist Dehons erstes Buch.[3] Was hat ihn veranlasst, ausgerechnet diese Reden als Buch zu veröffentlichen?

Offensichtlich scheint Dehon gesteigerten Wert darauf zu legen, seine Gedanken zur Erziehung und zur Lehre einer breiteren Öffentlichkeit zuzuführen. Was ihn aber zur Veröffentlichung bewegt, gibt er selbst im Vorwort seiner Schrift an:

„Seit einigen Jahren haben unsere Feinde die Intensität ihrer Attacke verdoppelt; es scheint, dass jedes Jahr eine besondere Anschuldigung für die lange Anklagerede (réquisitoire) bringen muss, mit der man den Unterricht von Ordensschulen (l’enseignement religieux) belasten will.“[4]

Der Hintergrund ist, dass die Lage für die katholische Lehre in den Schulen und in den Universitäten 1877, zur Zeit der Gründung von Saint-Jean, zwar bereits sehr gespannt und antiklerikal gewesen ist, dass sie sich aber seitdem wesentlich verschärft hat. Inzwischen kommt es zu einem offenen Kampf zwischen Staat und Kirche, in welchem der Staat mit den Dekreten von 1880 den Sieg davonträgt.[5] Diese Dekrete untersagen nahezu 300 Kongregationen den Unterricht und die Lehre.

In diesem Kampf zwischen Staat und Kirche geht es im Letzten nur um eine einzige Frage, die aber in jeder Hinsicht zentral und entscheidend ist: Wer gestaltet über den Einfluss auf die jetzige Generation die Zukunft der Gesellschaft? Dessen ist sich auch Dehon genauestens bewusst, wenn er im Vorwort seines Buches „L’éducation et l’enseignement selon l’idéal chrétien“ schreibt:

„Die Fragen von Unterricht und Lehre gehören mehr denn je zur Tagesordnung. Man versteht, dass die Zukunft jenen gehört, die in ihren Händen die Ausbildung der neuen Generationen haben, und das ist es auch, was diesbezüglich die Verbissenheit des heftigen Kampfes zwischen den Katholiken und den Repräsentanten der Ungläubigkeit erklärt.“[6]

Dehon strebt eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse an; er will der Gottlosigkeit, der Sittenlosigkeit und der Ausbeutung der Menschen, welche die Gesellschaft zunehmend prägt, begegnen. Sein besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die junge Generation; eine Veränderung bewirkt nämlich nur, wer dort arbeitet, wo die Gesellschaft von morgen gestaltet wird. Und Dehon weiß auch, dass er, wenn es keine kirchliche Jugend mehr gibt, keine Jugend, die innerlich die Werte des Evangeliums bejaht und die Glaubensüberzeugung vor dem Forum der Vernunft verantwortet, langfristig sein Anliegen nicht umsetzen kann. Daher liegt ihm die höhere Schulausbildung am Herzen, der Unterricht sowohl auf dem Gymnasium als auch auf der Universität.

„Gewiss, die von den Freunden der Kirche seit einem halben Jahrhundert unternommenen Anstrengungen sind nicht ohne Ergebnis geblieben. Seitdem einige eifrige Katholiken initiativ geworden sind und nach hartem Kampf die Freiheit der höheren Ausbildung (enseignement secondaire) - wenigstens teilweise - gewonnen haben, hat sich in den Ideen und im Geist der führenden Klasse und des Mittelstandes eine heilsame Wandlung (transformation salutaire) vollzogen.“[7]

Für Dehon ist die Freiheit, welche der Staat dem katholischen Unterricht und der katholischen Lehre einräumt, teuer. Diese Freiheit der katholischen Lehre (l’enseignement libre / liberté de l’enseignement) liegt ihm am Herzen. Dafür kämpft er. Deshalb redigiert er seine Reden, um sie zu veröffentlichen. Aus Dehons Perspektive könnte man formulieren: Wem die Freiheit des Unterrichts und der Lehre nicht teuer ist und wer diese Freiheit nicht nutzt und sein Können und seine Energie nicht in Unterricht und Lehre investiert, der will nicht mit seinem ganzen Willen an der Gestaltung der Gesellschaft und der Verbesserung ihrer Verhältnisse arbeiten. Positiv formuliert: Wenn ein Land, wenn eine Nation der katholischen Kirche die Freiheit von Erziehung, Unterricht und Lehre ermöglicht – was keineswegs selbstverständlich ist – , dann sollte die Kirche alles tun, um diese Freiheit zu nutzen.

Entscheidend ist für Dehon die Frage, ob eine katholische Jugend existiert oder nicht. Nur eine christlich erzogene Jugend wird in der Lage sein, die Gesellschaft von morgen aus dem Glauben heraus zu gestalten. Aus diesem Grund gilt Dehons Sympathie auch den katholischen Universitäten, weil sie in relativ kurzer Zeit große Erfolge hinsichtlich einer christlichen Prägung der Gesellschaft vorweisen können:

„Diese Freiheit (der Lehre und des Unterrichts) – so unvollkommen und begrenzt sie auch sein mag – hat eine immense Wirkung hervorgebracht, und es wäre schwierig, ihre wunderbaren Ergebnisse hinreichend zu würdigen. Gott sei Dank gibt es heute eine katholische Jugend, während sie 1830 und selbst 1848 kaum existierte. – Die Gründung der katholischen Universitäten wird diese Bewegung noch beschleunigen, so dass man den Tag erahnen kann, an dem der bessere Teil der Schüler und Studenten unserer großen staatlichen Schulen die Ränge der Indifferenz und der Religionslosigkeit verlässt, um zum Glauben zurückzukehren.“[8]

Hier liegen die tieferen Gründe für die Veröffentlichung von „L’éducation et l’enseignement selon l’idéal chrétien“. Wenn man unter Politik die aktive Gestaltung der Gesellschaft versteht, dann ist die Veröffentlichung dieses Buches in herausragender Weise politisch. Bereits bei der Gründung des St.-Josephs-Werkes 1873 hatte er als Absicht formuliert, das „Heil der menschlichen Gesellschaft“ zu wollen.[9]

 

3. Praxis

These: Das Prinzip der dehonianischen Erziehung ist die Liebe zum jungen Menschen; das Prinzip ihrer Lehre die Anregung (Inspiration).

Das Ziel der Arbeit in Erziehung und Bildung nach Dehon liegt nicht darin, Einzelqualitäten zu fördern oder zu einem bestimmten Menschentyp heranzubilden. Vielmehr sieht er den Menschen als eine Einheit von Leib – Geist – Seele. Darin zeigt sich die Stärke der christlichen Erziehung. Deutlich macht er dies, wenn er mit einem apologetischen Unterton schreibt:

„Nur das christliche Ideal umfasst gleichzeitig alle Elemente der menschlichen Vollendung. - Die christliche Bildung und Erziehung vernachlässigt nicht das, was für die körperliche Entwicklung wichtig ist. Sie sorgt sich um die Hygiene und die Leibesübungen. Sie hält die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften für notwendig, um die wesentlichsten Fähigkeiten des Geistes zu entwickeln. Sie bildet das Urteilsvermögen durch die Philosophie und die Geschichte, den Geschmack durch die Kenntnis von Modellen aus der Literatur und der Kunst, den Willen und das Herz durch die Religion, die Sitten und den Charakter durch das feine Benehmen, das in der besten Gesellschaft üblich ist. - Einen Christen zu erziehen bedeutet nicht nur, ihm geisteswissenschaftliche Grundkenntnisse zu vermitteln, die ihm helfen werden, sich eine Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen. (...) Das bedeutet auch und vor allem, in ihm einen edlen und erhabenen Charakter, gute Sitten und mannhafte Tugenden heranzubilden. –

Es bedeutet auch, in seiner Seele den Glauben wachsen zu lassen, der dem Verstand die unsichtbare Welt öffnet, die Hoffnung, die das Herz stärkt durch die Aussicht auf eine verdiente Glückseligkeit, und die Liebe, die Gott wahrnehmbar macht in den dunklen Schattenseiten des Lebens.“[10]

 

Kurzum: Das Ziel christlicher Erziehung und Bildung ist es, den jungen Menschen im Prozess seiner Menschwerdung zu begleiten, damit er jener Größe entgegenwachsen kann, die ihre letzte Vollendung in Gott findet.

Dehon vertritt ein ganzheitliches Bildungs- und Erziehungsideal. Bewusst wendet er sich gegen eine Trennung von Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung. Beide Bereiche bedingen sich gegenseitig. Dabei hat die Persönlichkeitsformung noch Vorrang vor der Wissensweitergabe. Das ist Dehons Programm. Das erklärt auch die Struktur des Titels der Schrift: „L’éducation et l’enseignement selon l’idéal chrétien“.

Wie sah die Praxis aus? Wie wollte Dehon konkret den Menschen formen? Was war ihm dabei wichtig? – Auf seinen Weltreisen besuchte Pater Dehon in Washington eine Schule für junge Mädchen. Begeistert spricht er in seinen Aufzeichnungen über die Ausstattung der Schule: Man sah ein Schulmuseum, einen großen Park; jeder Schüler verfügte über eine Studierecke, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Dehon ist beeindruckt: „Welch ein Unterschied zu unseren Internatskasernen!“[11] Die Erziehung verlange geeignete Rahmenbedingungen, betont er öfter. Die Schüler sollten nicht luxuriös leben, komfortabel aber dürfe es durchaus sein.

Zu allererst hat die Erziehung auf die Gesundheit der jungen Menschen zu achten, ganz nach dem klassischen Grundsatz: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano. „Die christliche Erziehung vernachlässigt nicht, was für die körperliche Entwicklung wichtig ist. Sie sorgt sich um die Hygiene und um Leibesübungen.“ [12]

Vor aller Wissensvermittlung legt der Schulleiter des Gymnasiums Saint-Jean Wert auf die Bildung der Persönlichkeit, er spricht von einer Schulung des Herzens und des Charakters. Viele Einrichtungen, beklagt er, bemühten sich nur um den Intellekt. Bei der Verteilung des Stundenplans diskutiere man ausführlich die Stundentafel der alten und neuen Sprachen, der Naturwissenschaften, des Unterrichts in Kunst und in Geschichte.

„Aber beschäftigt man sich genug damit, Mittel und Wege zu suchen, um bei den Kindern Qualitäten zu entwickeln, wie Standhaftigkeit, Mäßigung, Würde, Respekt, Mut, Initiative? Unterdessen wird ihr individuelles Leben mehr von dem abhängen, was sie durch ihr Herz und ihren Charakter sind, als durch das in ihrem Geist angehäufte Wissen. Manch hervorragender Schüler, den Kopf ‚ganz schön voll’ – wie Montaigne sagt –, verlässt nach dem Abschluss das Kolleg, um alle Arten von Dummheiten zu begehen, die man ihm vielleicht durch eine intensivere sittliche Erziehung hätte ersparen können.“[13]

„In Freiheit erziehen.“ Mit diesen schlichten Worten kennzeichnet Henri Dorresteijn den Erziehungsansatz Dehons. Dehon zeigt sich beeindruckt vom Kolleg der Lazaristen in Los Angelos, wo er eine Atmosphäre der Freiheit vorfindet. „Die Schüler verlassen ohne weiteres das Haus, sie können zum Theater gehen. Samstags und sonntags haben sie Urlaub. In Amerika legt man Wert darauf, dass die Kinder frühzeitig lernen, mit der Freiheit umzugehen.“ [14]

Der Kern der Erziehung ist die Religion. Gott ist das Prinzip und das Ziel aller Dinge. Nur eine Erziehung, die in den Glauben einführt und sich auf Eltern und Erzieher beruft, die für ihre Kinder beten, die mit ihnen Gottesdienst feiern und ihnen in allem ein Vorbild sind, trägt reiche Frucht. Von daher gehören für Dehon Schule und Kirche zusammen. Deutlich wird dies, wenn er in seiner ersten Rede zur Preisverleihung in Saint-Jean M. Thiers zitiert: „Eine Schule ist nur gut, wenn sie im Schatten der Sakristei bleibt.“[15]

Im Rahmen der notwendigen religiösen Orientierung der Erziehung  zitiert Dehon den Dichter Alphonse de Lamartine. Dieser erinnert sich an seine Zeit an der christlichen Schule:

„Die ganze Kunst unserer Lehrer bestand darin, uns selbst für den Erfolg unserer Schule zu interessieren und uns durch unseren eigenen Willen und unsere Begeisterung zu leiten. Ein göttlicher Geist schien Lehrer und Schüler gleichermaßen zu inspirieren. All unsere Seelen hatten ihre Flügel wieder erhalten und flogen mit einem natürlichen Elan dem Schönen und Guten entgegen. Selbst die aufsässigsten Schüler unter uns wurden in die Höhe gehoben und durch die allgemeine Bewegung mitgezogen. In dieser Schule habe ich gesehen, wie man Menschen heranbildet, nämlich nicht indem man sie zwingt, sondern indem man sie anregt (inspiré).“[16]

Für Dehon ist Lamartine der Gewährsmann. Die persönliche Erfahrung des Dichters ist für den Oberen und Schulleiter in Saint-Quentin ein verlässlicher Orientierungspunkt. Diese von Dehon zitierten Passagen sind insofern von Bedeutung, weil sie indirekt über sein ideales Erziehungsbild Aufschluss geben.

Im Zentrum der christlichen Erziehungsmethode steht die Anregung (inspiration). Sie ist im Letzten gestiftet durch den Geist Gottes, der Lehrer und Schüler gleichermaßen beseelt. Diese vom göttlichen Geist getragene Begeisterung steckt die gesamte Schulgemeinschaft an, hält sie als Gruppe zusammen, vermittelt ihr ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine Identität. Sie verschafft der Seele in ihrem freien Streben nach Schönem und Gutem Flügel.

Der Geist Gottes ist der eigentliche Erzieher, er formt und gestaltet. Er erneuert das Angesicht der Erde, er bildet im Letzten auch Menschen heran. Dehon vertritt eine Erziehung, die aufbauend und erhebend ist, die der Seele Flügel verleiht und die dennoch realitätsnah und geerdet ist. Dieses Anliegen ist von einer ganz anderen Qualität als die noch so umfassende Wissensvermittlung.

Unmittelbar vor den Sommerferien, anlässlich der Preisverleihung, hielt der Schulleiter von Saint-Jean jeweils eine längere, programmatische Rede. In der Rede zur Preisverleihung am 31.7.1886 hält Pater Dehon vor den Schülern, Lehrern und anwesenden Gästen eine besonders leidenschaftliche Rede. Sie ist deshalb so leidenschaftlich, weil Pater Dehon an das Unterrichtsfach Erdkunde anknüpft, sein Lieblingsfach. In seiner Phantasie malt er den Schülern gegenüber aus, wie er ihnen Geographie beibringen, wie er sie an die Hand nehmen würde, um ihnen die Welt zu zeigen. Und er erläutert ihnen, welche Eindrücke diese Erlebnisse in ihrer Seele hinterlassen würden:

„Das Schöne! Welchen Grund mag es geben, von ihm eine Kinderseele fern zu halten? Ist nicht das eine für das andere geschaffen? Wer kostet das Schöne besser aus als der junge Mensch? Seine Seele dürstet nach dem Schönen. Es ist dieses junge Alter, das sich begeistert und das liebt.

Wenn ich Erdkundelehrer wäre, sagte ich den jungen Leuten: Schaut Euch diesen Globus an, der wie ein Garten der Menschheit ist, er wurde angelegt durch einen großen Künstler und seine Schüler. Der Künstler, das ist Gott; seine Schüler sind die Menschen, die Künstler dieser Erde. (...) Ich würde ihnen sagen: Nutzt eure Ferien, profitiert von euren Reisen, macht Notizen, beobachtet, vergleicht. Natürlich muss man alles mit Maß machen und darf seine Mittel nicht überschreiten. Manch einer wird nur in seiner Phantasie auf die Reise gehen, mit Hilfe einiger guter Bücher. Manch anderer, der nicht auf das Geld achten muss, wird weit reisen. (...) Übrigens, eine gut gemachte Reise, ob groß oder klein, wiegt wohl manche andere Unterhaltung und Belohnung auf. Das ist ein Studium und eins der besten. Das Gefallen an diesem Studium wiegt durchaus einen Abend im Jugendzirkel, ein Billardspiel, eine Romanlektüre auf. Die Berührung mit dem Schönen veredelt die Seele, das Schauspiel des Großartigen erhebt sie.“[17]

Diesen Erdkundelehrer vor Augen sollen abschließend jene Erziehungsmaximen zusammengestellt werden, die bei Pater Dehon die wichtigsten zu sein scheinen. Aufgrund der tiefen Prägung Dehons durch seine Arbeit mit jungen Menschen werfen diese Erziehungsmaximen nicht nur ein Licht auf seine Pädagogik, sondern darüber hinaus auch auf seinen Leitungsstil der jungen Kongregation.

Erziehungsmaximen Dehons

  1. Der junge Mensch ist ein von Gott geliebtes Wesen. Seine Persönlichkeit ist heilig.
  2. Die Liebe zum jungen Menschen ist die Grundlage der Erziehung.
  3. Eine wahrhaftige Erziehung lässt sich vom Geist Gottes leiten.
  4. Die Erziehung ist ganzheitlich. Sie führt in den Glauben ein und zu Verantwortung.
  5. Worte sind bedeutungslos, solange die Anschauung fehlt.
  6. Die Erzieher sind in allem ein Vorbild. Der Einfluss der Gruppe der Gleichaltrigen ist ein wichtiger Faktor in der Sozialisation.
  7. Anregung, Inspiration und Begeisterung sind die Hauptfaktoren in der Erziehung. Sie führen zu forschendem Lernen und zu eigenständigem Entdecken.
  8. Die Erziehung geschieht in Freiheit.

 


[1] Dehon steht der Pfarrseelsorge seiner Zeit kritisch gegenüber. Sie erreiche nicht mehr die Jugend: „Nos confrères ont amplement prouvé que les conditions ordinaires du ministère paroissial sont insuffisantes pour assurer la persévérance des jeunes gens.“ In: L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 185.

[2] „...les mêmes raisons qui prouvent la nécessité de ces catéchismes, démontrent aussi leur insuffisance.“ In: L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 187.

[3] Dehon publizierte später ungefähr zwanzig Bücher zu gesellschaftlichen und spirituellen Fragen sowie zahlreiche Artikel und Beiträge, die in den verschiedenen Zeitschriften erschienen. Sein erstes Buch über die christliche Erziehung kann zu den grundlegenderen Werken seines Lebens gerechnet werden. Es offenbart bereits das fundamentale Interesse an einer Tätigkeit, die sein gesamtes Leben wie einen roten Faden durchzieht: die Erziehung und Heranbildung einer Gesellschaft, die auf der Grundlage eines lebendigen Glaubens die Botschaft Jesu lebt.

[4] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 273. Das von Dehon verwendete Wort für Anklagerede (réquisistoire) entstammt der Rechtssprache. Unter réquisitoire versteht man die zentrale Rede der Anklage, das Plädoyer des Staatsanwaltes.

[5] Y. Ledure, Petite vie de Léon Dehon, s. 98.

[6] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 270-271.

[7] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 271.

[8] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 271.

[9] J. Haas, P. Leo Dehon, s. 65-66.

[10] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 277-278.

[11] L. Dehon, Voyage autour du monde 11, 365; hier zitiert nach H. Dorresteijn, Vie, s. 305.

[12] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 277.

[13] L. Dehon, Discours sur l’éducation du caractère (1891). In : L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 432-433.

[14] L. Dehon, Voyage autour du monde (1910). In : L. Dehon, Notes Quotidiennes IV, 1910-1911, Rom 1997, s. 112.

[15] L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 291.

[16] Zitiert nach P. Monfat, Éducation, 104. In : L. Dehon, Oeuvres sociales IV, s. 290.

[17] L. Dehon, Oeuvres Sociales IV, s. 365-366.